November – Freiheit und Menschenwürde

Seit zwei Wochen bin ich wieder zurück in der Türkei. Ganz langsam fange ich an, meinen über dreiwöchigen Aufenthalt in Augsburg zu verdauen. Als ich bei meinen Eltern eintraf, war meine Mutter körperlich und seelisch am Ende. Die Demenz meines Vaters hatte sich seit meinem letzten Besuch im März ganz schrecklich verschlechtert. Er geisterte nun auch jede Nacht durch die Wohnung, teilweise war er geistig in der Zeit des Krieges, die tief in ihm sitzt. Seine Todesängste mitzuerleben, im Ansatz zu begreifen, was ihn zu dem gemacht hat, was er heute ist. So vieles ist neu für mich, so vieles tut mir nur schrecklich weh im Herzen. Diesen alten Menschen im Arm zu halten und nicht helfen zu können. Und dann seine wachen Momente mitzuerleben, in denen es möglich ist, ein paar Sätze zu wechseln. Zu spüren, dass er kurz klar im Kopf ist.

Trotzdem musste eine Lösung gefunden werden und zwar schnell. All meine Kraft und Energie habe ich eingesetzt, um eine Veränderung herbeizuführen. Viele Menschen standen mir zur Seite, haben mich ermutigt und aufgeklärt, wie der nächste Schritt aussehen muss.

Mittlerweile ist mein Vater in einem kleinen beschützenden Pflegeheim untergebracht. Dies war jedoch nur mit einem gerichtlichen Beschluss möglich. Das war mit die größte Herausforderung, diesen bürokratischen Weg zu gehen, der einem das Herz zerreißt. Eigentlich könnte ich stolz auf diese Leistung sein, doch ich habe zu viele dieser alten Menschen im Arm gehalten und mit ihnen gelitten und geweint. Diese Generation hat mitgeholfen Deutschland zu dem zu machen, was es heute ist. Nämlich stolz und reich. Und doch vegetieren diese alten verbrauchten Menschen in den Heimen vor sich hin. Ich könnte schreien, denn auch unsere Generation wird alt und ich hoffe, dass sich jemand findet, der auch uns dann noch mal in den Arm nimmt, streichelt und uns die Tränen abwischt. Wenn man das erlebt hat, möchte man die Arme weit öffnen und all diese hilflosen alten Menschen nur ans Herz drücken.

Das Buch von Armin Rieger „Der Pflege-Aufstand“ hat mich noch mehr bestürzt. Alt werden gehört zum Leben, doch die Umstände sollten andere sein. Denn Freiheit und Menschenwürde sind ein Grundrecht. Tief sitzen die vielen erlebten Eindrücke. Die Trauer, ebenso wie die Wut auf diejenigen, die für die teils menschenundwürdigen Heime verantwortlich sind, nur um den eigenen Profit noch größer zu machen.

Doch das Leben muss weiter gehen und ich richte den Blick nach vorne. Als ich nach Deutschland ging, war hier noch Sommer, jetzt ist es winterlich kalt. Sommerliche Klamotten werden eingemottet, warme Bettwäsche ist angesagt. Dazu der erste Türkenregen und der gespannte Blick nach oben, ob alles dicht ist.

Begeistert sind wir allerdings vom neuen Kamin, die Arbeit hat sich wirklich gelohnt und die abstrahlende Hitze ist ein Genuss.


Othmar hat die Zeit alleine genutzt und alles mühsam verputzt
eine Herausforderung mit nur noch einem Auge


gemeinsam haben wir nun das gute Stück eingeweiht

Auch unsere Katzen sind schlagartig im Wintermodus.
Mogli beansprucht meine Wärmflasche und Krümel wagt sich nicht zu rühren

Die nächste Herausforderung ist nun die Verlängerung meiner Aufenthaltsgenehmigung hier. Die Bürokratie wird immer undurchsichtiger und kostet Nerven ohne Ende.

Zusätzlich geschockt wurden wir dann noch von unserer Allianz-Krankenversicherung. Die wurde einfach um über 400% erhöht, da Othmar ja die große Bypass-OP hatte. Ich frage mich, für was wir die letzten zwölf Jahre unsere Beiträge hier bezahlt haben? Behandelt werden wir nun wie ein Neuzugang – unglaublich aber wahr.

 

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